Der achte Mond

Mit dem chinesischen Flüchtlingsstrom des Jahres 1962 kam ein siebzehnjähriges Mädchen aus Tientsin nach Hongkong mit dem Entschluss, nicht mehr nach Tientsin zurückzukehren, sondern künftig mit ihrer Familie in den USA zu leben aus politischen Motiven, sondern aus Sehnsucht nach Eltern und Geschwistern. Was dem Reisenden nicht aus dem Westen verwehrt bleibt, der Einblick in den Alltag der chinesischen Familie, ihre Sorgen und Probleme, ermöglicht dieser ungewöhnliche autobiographische Bericht aus den Jahren 1949 bis 1962. San-San wächst in einer kleinbürgerlichen Familie auf, die sie für ihre eigene hält und für die sie eine Mischung aus Mitleid und Auflehnung empfindet. Sie lernt und liest gern, ist aber zu individualistisch und eigenwillig, um an dem Zwang, den die Partei schon in der Schule ausübt, und an den ständigen «freiwilligen» Arbeitseinsätzen Geschmack zu finden. San-San ist stolz auf ihr Land und stellt den Sozialismus schon deshalb nicht in Frage, weil sie nichts anderes kennt; aber die ideologischen Parolen langweilen sie, und die Politisierung des ganzen Lebens empfindet sie als Fessel. Sie möchte das sein und werden, was ihren Neigungen entspricht, und stösst sich immer wieder an dem vorgeprägten Plan, der alle individuellen Wünsche und Talente einebnet. Trotzdem verlässt sie ihr Land nicht aus Opposition gegen eine Ideologie oder Lebensform, sondern um privater Gefühle willen. Geschildert wird eine Kindheit, eine Jugend, und wir sehen ein Stück fremder, unbekannter Welt mit den Augen eines sehr jungen, wachen und liebenswerten Menschen. Aber vielleicht erfahren wir gerade deshalb mehr und Authentischeres über das China Maos als aus mancher Experten-Analyse.

Die Welt, Hamburg